Dokumentation zum Stolpersteinprojekt

Der folgende Text ist ein Auszug aus einer Dokumentation von 2008, die die am Projekt beteiligten Schülerinnen Laura Bussmann, Hanna Daams, Linda Hilgers, Caroline Meier, Linda Schaar und Lea Thiekötter nach der Stolpersteinverlegung erstellt haben.

Unsere Motivation

Das Thema „Nationalsozialismus“ und Judendeportation fand schon immer unser Interesse. Trotzdem blieben all die schrecklichen Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkrieges für uns unfassbar. Es war für uns nicht leicht, dieses Thema anzugehen, da das Leiden tausender Menschen unser Vorstellungsvermögen übersteigt. […] Wir wollen wissen, wer diese Menschen waren, was sie fühlten und dachten. Wir wollen an sie erinnern und unsere Mitmenschen zum Nachdenken anregen. Genau dies konnten wir erreichen durch die erste Aachener Stolpersteinverlegung.

 

Das Thema „Nationalsozialismus“ und Judendeportation fand schon immer unser Interesse. Trotzdem blieben all die schrecklichen Ereignisse vor und während des Zweiten Weltkrieges für uns unfassbar. Es war für uns nicht leicht, dieses Thema anzugehen, da das Leiden tausender Menschen unser Vorstellungsvermögen übersteigt. […] Wir wollen wissen, wer diese Menschen waren, was sie fühlten und dachten. Wir wollen an sie erinnern und unsere Mitmenschen zum Nachdenken anregen. Genau dies konnten wir erreichen durch die erste Aachener Stolpersteinverlegung.


 

Uns war es wichtig, auch auf Einzelheiten einzugehen und Einzelschicksale kennen zu lernen. Besonders hat uns interessiert, wie es Jugendlichen, die damals so alt waren wie wir es heute sind, ergangen ist und wie sie mit ihrem Schicksal umgingen. […] Wir wollen die Menschen darauf aufmerksam machen, dass auch in unserer Heimatstadt tausende Menschen von den Nationalsozialisten bedroht, deportiert und ermordet wurden. Außerdem wollen wir die Menschen dazu aufrufen, Verantwortung zu übernehmen, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, selber zu denken und vor allen Dingen zu handeln, um so dafür zu sorgen, dass solch eine schreckliche, unfassbare und menschenverachtende Gesinnung nie wieder Macht entfalten kann. Durch unser Mitwirken an dem Projekt und unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Opfern möchten wir unseren Teil dazu beitragen, dass so etwas nie wieder passiert.


Gespräch mit Rolf Levy

Nach unserem Entschluss, die Patenschaft für die Stolpersteine der Familie Levy und die Aufarbeitung ihrer Geschichte zu übernehmen, wollten wir Rolf Levy einladen, um ihn näher kennen zu lernen und um mit ihm über das Schicksal seiner Verwandten zu sprechen.

Zu unserer Freude nahm er unsere Einladung an und besuchte uns am 27. April 2007 in unserer Schule. Etwas unsicher und gespannt auf das bevorstehende dreistündige sehr intensive und persönliche Gespräch erwarteten wir ihn im Stillarbeitszentrum. Weil wir vorher noch nie mit einem Zeitzeugen jüdischen Glaubens gesprochen hatten, gingen uns vor dem Treffen Fragen wie „Welche Erfahrungen musste Rolf Levy machen?“, „Wie geht er mit der Vergangenheit um?“ oder einfach nur „Was für ein Mensch ist Rolf Levy?“ durch den Kopf.

Wir fanden es sehr bewundernswert, als der 77- jährige, auf den Rollstuhl angewiesene Rolf Levy dann tatsächlich unserer Runde beiwohnte, um uns Rede und Antwort zu stehen.

Viele unserer Fragen haben sich während seiner Erzählungen erübrigt, da er sehr viel und vor allem sehr detailliert die Geschehnisse schilderte. Besonders bewegend war für uns festzustellen, an wie viele – auf den ersten Blick unscheinbare – Kleinigkeiten sich Rolf erinnert, die für ihn aber von unschätzbarem Wert sind, wie zum Beispiel das Quietschen des ungeölten Tores, als sein Vater Hermann von der belgischen Polizei abgeführt wurde.

Während er berichtete, kamen selbstverständlich alle erlebten Erinnerungen und Gefühle wieder hoch. Wir sogen die Schilderungen in uns auf und nahmen still Anteil an seiner immer noch währenden Trauer. Er ermöglichte uns, seine Familie nicht nur durch seine Berichte, sondern auch durch mitgebrachte Fotos besser kennen zu lernen.

Nach den drei Stunden gingen wir mit vielen Informationen, aber auch in einem emotional aufgewühlten Zustand und mit der Gewissheit nach Hause, dass wir das Projekt „Stolpersteine“ für die Familie Levy mit Sicherheit betreuen wollen.


Die Stolpersteinverlegung

Am 16. Januar 2008 wurden in Aachen von dem Künstler Gunter Demnig insgesamt neun Stolpersteine verlegt. In der Aula der Maria-Montessori-Schule wurden alle Mitwirkenden und Gäste begrüßt. Ein offener Anfang machte es möglich, die Ausstellung der Schülerarbeiten über die jeweiligen Schicksale, mit denen sie sich beschäftigt hatten, zu studieren. Durch ein großes Plakat mit Stammbaum, Zeitleiste und Lebensläufen, machten wir auf die Familie Levy aufmerksam.

Nach der Ansprache seitens der Stadt Aachen folgte ein Vortrag des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der sowohl das Stolpersteinprojekt an sich, als auch seine bisherigen künstlerischen Arbeiten vorstellte. Anschließend wurden die einzelnen Menschen, derer durch die Stolpersteine gedacht werden sollte, von den Paten in kurzen Vorträgen vorgestellt. Mit dem folgenden Textbeitrag haben wir an das Schicksal der Familie Levy erinnert:


„Wir haben uns mit dem Schicksal der Familie Isaak Levy und Sibilla Levy geb. Hertz aus Haaren beschäftigt. Viele der Informationen haben wir von ihrem Enkel Rolf Levy bekommen, der heute hier auch anwesend ist.

Wir haben versucht, uns in die Situation von Rolf Levy ein wenig einzudenken und einzufühlen. Rolf Levy wurde 1929 geboren. Zunächst wuchs er in einer großen Familie auf, denn sein Vater Hermann hatte 7 Geschwister. Wenn auch 2 von ihnen schon als Babys gestorben waren, so erlebte er die anderen 4 Brüder und die Schwester seines Vaters doch regelmäßig.

Aber schon sehr bald veränderte sich das Leben der Familie grundlegend. Immer häufiger wurde von Emigration oder Flucht gesprochen. Zuerst emigrierte Onkel Albert nach Holland. Dann hörte er immer wieder, dass Freunde seinen Vater drängten, auch zu fliehen, da er in Deutschland nicht mehr sicher sei. Rolf war noch keine 9 Jahre alt, als sein Vater sich dann schließlich auch zur Flucht entschloss. Zu Fuß begleiteten die 3 Kinder und ihre Mutter Rolfs Vater über die Grenze nach Belgien. Von Welkenradt aus fuhr er mit dem Zug nach Brüssel, Frau und Kinder gingen zunächst noch zurück nach Aachen, da Rolfs Mutter nicht aus einer jüdischen Familie stammte und sich deshalb in Deutschland noch sicher fühlte. Sie wollten abwarten, bis der Vater in Brüssel eine Wohnung gefunden und alles für den Nachzug der Familie vorbereitet hatte. Aber schon sehr bald tauchten Gestapo-Leute zu Hause auf und kündigten der Mutter an, dass man ihr die Kinder wegnehmen werde. Natürlich ließ sich die Mutter nicht von ihren Kindern trennen und überstürzt floh auch die restliche Familie nach Brüssel.

Für eine Weile konnte der 9-jährige Rolf hier wieder glauben, die Welt sei in Ordnung. Er ging wieder zur Schule, fand neue Freunde. Aber schon im Mai 1940, Rolf war noch keine 11 Jahre alt, änderte sich wieder alles. Die Deutsche Armee marschierte in Belgien ein. In den Augen der Belgier waren die Levys nun feindliche Deutsche. Der Vater und der ältere Bruder wurden verhaftet und in verschiedene Internierungslager in Frankreich deportiert. Rolf, seine Mutter und seine Schwester flohen nach Frankreich, wurden dort zunächst auch in verschiedenen Lagern festgehalten und konnten schließlich in einem Versteck auf einem Bauernhof bis zur Befreiung 1944 überleben. Einmal noch haben sie den Vater in einem Lager gesehen und gesprochen, aber der konnte nicht fliehen.


Als der Krieg zu Ende war, war Rolf 15 Jahre alt. Zunächst blieb er in Frankreich und machte dort eine Ausbildung. Sein Bruder Gert hatte aus einem Internierungslager fliehen können und fand seine Mutter und die Geschwister wieder. Aber was war mit dem Vater passiert?

Erst ganz allmählich erfuhr Rolf die furchtbare und so unbegreifliche Wahrheit: Als die Deutschen auch Frankreich besetzt hatten, hatte ein systematischer Transport auch aller Juden in Frankreich in die Vernichtungslager im Osten begonnen. Sein Vater Hermann Levy war nach Sobibor transportiert worden und dort ermordet. Auch den Onkel Albert hatte die Flucht aus Deutschland nicht gerettet. Auch er war in mehreren Internierungslagern in Frankreich festgehalten und schließlich nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Die Transportlisten beider Transporte sind erhalten und dokumentieren auch heute noch mit welcher akribischen Grausamkeit die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gearbeitet hat.


Immer mehr furchtbare Geschehnisse musste Rolf zur Kenntnis nehmen: Sein Onkel Heinrich war ebenso wie seine Tante Selma und die 18-jährige Kusine Ruth im Jahre 1942 aus Aachen nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet worden. Rolfs Tante Frieda Heinemann war mit ihrem Mann Alfred und den beiden Kindern Margot und Ernst ebenfalls nach Theresienstadt deportiert und ermordet worden. Der Onkel Benno war im August 1941 in Haaren auf offener Straße erschlagen worden und herbeigeeilte Anwohner waren vom Dorfpolizisten daran gehindert worden ihm beizustehen. Onkel Emil schließlich, der schon als Rolf und seine Familie noch in Aachen waren, verhaftet und wegen so genannter „Rassenschändung“, weil er eine nicht-jüdische Geliebte hatte, zu Gefängnis und anschließendem Konzentrationslager verurteilt worden war, war nach Mexiko geflohen. Dort war er schon 1951 „verzehrt an Körper und Geist von bitterem Leid und Heimweh“, wie ein Freund in der Todesnachricht schrieb, gestorben.


Von der ganzen großen Familie haben nur Rolfs Mutter und die drei Kinder den Holocaust überlebt. Für uns ist es unfassbar und unbegreiflich, wie Menschen zu solchen Verbrechen fähig sein können. Und es ist uns ganz schwer vorstellbar, wie man solche Erfahrungen und solches Leid aushalten kann, ohne …


Herr Levy, wir möchten uns bei Ihnen bedanken, dass Sie uns an Ihren Erinnerungen teilhaben lassen und dass wir mit Ihnen zusammen Ihrer Angehörigen gedenken dürfen.

Wir wollen die Erinnerung wachhalten und unseren Teil dazu beitragen, dass so etwas nie wieder passiert.“


Zum Abschluss der Einführungsveranstaltung sang der Rabbiner Jaron Engelmayer das Totengebet auf Hebräisch, dann sprach er es auf Deutsch.

[…]

Als Gruppe machten wir uns auf den Weg in die Lothringerstraße 107, um den Stolperstein für Hermann Levy zu verlegen. Dort hatte dieser einst mit seinen drei Kindern und seiner Frau gewohnt, bevor die Judendeportation auch in Aachen begann. Besonders beeindruckend war die Anwesenheit seines Sohnes Rolf Levy, der der gesamten Stolpersteinverlegung beiwohnte. Gerührt von der Aufmerksamkeit, die man seiner Familie und ihren fürchterlichen Erlebnissen schenkte, gab er ein beeindruckendes Interview und bedankte sich bei uns für unser Engagement.

[…]

Wie haben wir recherchiert?

[…] Unsere wichtigste Quelle war neben den Gesprächen mit Rolf Levy das Heft „Die Juden in Haaren“ von Eduard Beyer. Die dort entnommenen Fakten haben wir ergänzt und überprüft anhand weiterer im Literaturverzeichnis aufgeführter Bücher, Hefte und Artikel über Aachen in der Zeit des Nationalsozialismus, insbesondere mit Hilfe der ausführlichen zweibändigen Dokumentation „Von der Emanzipation bis zum Holocaust. Die Israelitische Synagogengemeinde zu Aachen 1801 – 1942“ von Herbert Lepper.

Fehlende Informationen zu Umzügen und Adressänderungen haben wir im Stadtarchiv in den Adressbüchern aus den 30er und 40er Jahren aufgesucht. Weitere Informationen zu den genauen Deportationsdaten und –wegen fanden sich auf verschiedenen Internetseiten, wo wir insbesondere für Hermann Levy den Deportationsweg über die Internierungslager St. Cyprien, Récébédou, Nexon und Gurs zum Convoi 50 von Drancy nach Sobibor am 4.März 1943 rekonstruieren konnten.

Insgesamt wurde deutlich, dass einerseits viele akribisch geführte Listen erhalten sind, dass es aber andererseits sehr schwierig ist die einzelnen Informationen zusammenzufügen.